Turnvater, Turnwüterich, Reformer, Nationalist, Napoleonhasser, Turn-"Daddy", Chauvinist, Nationalheld, Antisemit, Demokratenfresser, Sportsman ...
"Für jeden hatte der Turnvater etwas übrig, und was der Nachwelt mit ihren gegeneinanderstehenden Ansichten gerade in den Kram paßt, wird verwertet und Jahn als Vorbild dessen dargestellt."
(Arbeiterturnführer Karl Frey, 1906)
Alle politischen Systeme des 19. und 20. Jahrhunderts haben sich der historischen Person bedient. Jahn und die mit ihm verbundene Rezeption stehen in gewisser Weise symbolisch für die Biografie der Deutschen. Sein Wirken ist mit Fragestellungen verbunden, die bis heute unabgeschlossen in die Gegenwart ragen und deren Antworten immer wieder neu verhandelt werden. Die Aktualität Jahns resultiert dabei jedoch nicht nur aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach historischen Wirkungslinien, sondern auch aus der Attraktivität dieser schillernden, sagenumwobenen, oft widersprüchlichen und daher umstrittenen Persönlichkeit, in deren Schriften jede/r einen zitierfähigen Satz findet, die die eigene Interpretation und weltanschauliche Position belegt.
Jahn polarisiert! Oftmals sind es aber gar nicht die Inhalte, die das Interesse an Jahn stimulieren, sondern das Bildhafte dieser assoziationsbeladenen Persönlichkeit, die eine emotionsbeladene Betrachtung ermöglicht. Das Jahnbild ist daher häufiger "Bild" als Inhalt.
BiographieFriedrich Ludwig Jahn
Chronologie/ Lebenslauf
Friedrich Ludwig Jahn wurde am 11.8.1778 in Lanz (Prignitz) als Sohn eines Dorfpfarrers geboren, besuchte Gymnasien in Salzwedel und Berlin, studierte in Halle, Greifswald und anderen Universitäten vorwiegend Geschichte und Sprachwissenschaften. Von 1803 bis 1805 war er als Hauslehrer in Mecklenburg tätig.
11. August 1778
Friedrich Ludwig Jahn wird in Lanz als Sohn des Dorfpfarrers geboren.
1791 – 1794
Er besucht das Gymnasium in Salzwedel.
1794 – 1795
Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin (ohne Abschluss)
1796 – 1803
Studium in Halle, Greifswald und Besuch weiterer Universitäten
1803 – 1805
Hauslehrer in Mecklenburg
1805 – 1806
Fortsetzung des Studiums in Göttingen
1806
Sieg Napoleons bei Jena und Auerstedt; Jahn wird Zeuge der Niederlage Preußens und der Okkupation anderer deutscher Staaten. Er trifft die Entscheidung seines Lebens, für die Einheit und Freiheit Deutschlands zu wirken.
1807
Besuch bei GutsMuths in Schnepfenthal mit Besichtigung des dortigen Gymnastik-Platzes
1809
- Lehrer am Grauen Kloster in Berlin
- vergeblicher Versuch einer akademischen Karriere
1810
Jahn ist Hilfslehrer an der Plamannschen Anstalt, führt Schüler zu Leibesübungen und Spielen ins Freie, gründet mit Friesen den geheimen „deutschen Bund“ und veröffentlicht seine programmatische Schrift „Deutsches Volksthum“.
1811
Am 18. Juni eröffnet Jahn den ersten öffentlichen Turnplatz in der Berliner Hasenheide und initiiert damit die deutsche Turnbewegung, stellt das Turnen in den Dienst der Nationalerziehung und die Vorbereitung auf den Freiheitskrieg gegen die napoleonische Besatzung, erarbeitet mit Friesen die „Burschenordnung“, die das studentische Leben an den Universitäten auf eine neue Grundlage stellen soll.
1813
Jahn schließt sich mit älteren Turnern der Hasenheide als Kriegsfreiwilliger dem Freikorps Lützow an, wirbt erfolgreich weitere Kriegsfreiwillige für diesen Militärverband, ist allerdings mit der Aufgabe eines Bataillonskommandeurs überfordert; militärisch bleibt das Freikorps Lützow bedeutungslos, wird später aber zu einem Symbol des „Volkswiderstandes“ gegen die Fremdherrschaft stilisiert; Ernst Eiselen, Jahns Mitarbeiter auf dem Hasenheide-Turnplatz, führt in den Kriegsjahren den Turnbetrieb auf der Hasenheide mit den älteren Turnern weiter. Von 16.10.1813 bis 19.10.1813 fand die Völkerschlacht bei Leipzig statt.
1814
Im Auftrag der preußischen Regierung ist Jahn in Paris, heiratet in der Dorfkirche zu Neuenkirchen bei Neubandenburg Helene Kollhof, bezieht ein jährliches Ehrengehalt vom Staat und wird für die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz vorgeschlagen.
1815
Auf dem Wiener Kongress zieht sich Jahn aufgrund seines Auftretens und seiner äußeren Erscheinung den Unmut der vornehmen Fürstenversammlung zu. An der Universität Jena gründen ehemalige Lützower und Anhänger Jahns die „Urburschenschaft“. Studenten-Turner, ehemalige Lützower gründen am 29.05.1815 in Jena die Urburschenschaft nach Jahns Ideen.
1816
Fünf Jahre nach der Eröffnung des Hasenheide-Turnplatzes geben Jahn und Eiselen das grundlegende Lehrbuch „Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze“ heraus, das sie als Gemeinschaftswerk der ganzen Berliner Turngemeinde verstanden wissen wollen.
1817
In 21 öffentlichen Vorträgen über „Deutsches Volkstum“ kritisiert Jahn die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, zugleich wird das Turnen Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen. Die frühe Turnbewegung erlebt in diesem Sommer ihren Höhepunkt. Anlässlich der 300. Wiederkehr des Thesenanschlags von Martin Luther findet im Oktober das Wartburgfest statt, die Universitäten Jena und Kiel verleihen Jahn die Ehrendoktorwürde. Außerhalb des offiziellen Festprogramms inszenieren Schüler und Anhänger Jahns und der Burschenschaft eine Bücherverbrennung, die die restaurativen Kräfte als äußeres Zeichen für einen drohenden Umsturz wahrnehmen.
1818
Um die Ziele des Turnens entbrennt in Breslau ein heftiger öffentlicher Gelehrten-Streit, der erst durch den preußischen König beigelegt wird und mit der Schließung der Turnplätze in Breslau und Liegnitz einhergeht.
1819
Die Ermordung des bekannten Lustspieldichters v. Kotzebue durch den Burschenschafter und Turner Sand ist der letzte Anstoß für die preußische Regierung, auch den Turnbetrieb in der Hasenheide zu verbieten. Jahn wird verhaftet. Die „Karlsbader Beschlüsse“ leiten in den Staaten des Deutschen Bundes die „Demagogenverfolgung“ ein, der sich zahlreiche Turner und Burschenschafter durch die Flucht ins Ausland entziehen. Die behördlich verfügte „Turnsperre“ bleibt bis 1842 in Kraft.
1823
In seinem Verbannungsort Kolberg, wo sich Jahn nach seiner Gefangenhaltung in Spandau, Berlin und Küstrin aufhalten musste, verstirbt seine Ehefrau Helene, der Sohn Arnold Siegfried ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt.
1825
Seine Selbstverteidigung, die er ein Jahr zuvor mit dem Kolberger Stadtsyndikus verfasst hatte, führt zu seinem Freispruch. Der Staat zahlt seine Ehrenpension unter der Bedingung weiter, zukünftig in keiner Universitäts- oder Gymnasialstadt zu wohnen; außerdem ist er verpflichtet, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Jahn heiratet Emilie Hentsch, die ihre Tochter Sieglinde zur Welt bringt und nimmt seinen Wohnsitz in Freyburg (Unstrut).
1828
Weil er in Merseburg Kontakt zu Schülern des dortigen Gymnasiums hatte, muss Jahn mit seiner Familie nach Kölleda umziehen; 1836 kehrt er nach Freyburg (Unstrut) zurück.
1838
Ein Brand in seiner Mietwohnung vernichtet sein Hab und Gut. Jahn entschließt sich zum Bau eines Wohnhauses unterhalb der Neuenburg an der heutigen Schlossstraße. Geldsammlungen unter seinen früheren Anhängern – Turnschüler, Lützower, Burschenschafter – unterstützen sein Vorhaben und tragen entscheidend dazu bei, dass er sein großzügig angelegtes Haus halten kann.
1840
Als Nachfolger seines Vaters begnadigt der neue preußische König Friedrich Wilhelm IV. Jahn, der bis dahin unter Polizeiaufsicht stand und verleiht ihm das Eiserne Kreuz.
1842
Nach der Aufhebung des Turnverbots in Preußen erfährt die unabhängige Turnbewegung eine Neubelebung. Ausgehend von Südwestdeutschland bilden sich in nahezu allen Staaten des Deutschen Bundes in den nächsten Jahren Männerturnvereine, die Jahn als „Turnvater“ verehren.
1848/ 49
Nach der Märzrevolution ist Jahn Mitglied des Vorparlaments und wird zum Abgeordneten in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, der er bis zuletzt angehört. Er unterstützt im April die Gründung des Deutschen Turnerbundes in Hanau, überwirft sich aber mit den republikanisch gesinnten Turnern, sodass er als „Demokratenvertilger“ karikiert wird.
1852
Nach seiner Abgeordnetentätigkeit in Frankfurt kehrte Jahn enttäuscht nach Freyburg zurück. Hier stirbt er am 15. Oktober – von der Öffentlichkeit kaum beachtet.
Leben und Wirken
Die Niederlage Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt und die Besetzung deutscher Territorialstaaten durch Napoleon prägten die Entscheidung seines Lebens, für die Befreiung und die Einheit Deutschlands zu wirken. In den Jahren bis 1810 besuchte er GutsMuths in Schnepfenthal und interessierte sich dort für dessen gymnastische Übungen und schulreformerische Ideen, er war Lehrer in Berlin und gründete mit Friesen den geheimen „Deutschen Bund“. Jahns Streben galt der Ertüchtigung junger Menschen durch Leibesübungen im Freien, verbunden mit nationaler und patriotischer Erziehung. Seine Gedanken dazu legte er in dem 1810 erschienenen Buch „Das Deutsche Volkstum“ dar. Die Bemühungen um das „Turnen“ – wie er es nannte – gipfeln in der Einweihung des ersten öffentlichen Turnplatzes auf der Berliner Hasenheide am 18.6.1811.
Das Wohnhaus des "Turnvaters" um 1894.
Seine Turner bewährten sich 1813 im Lützower Freikorps, in dem er selbst einer der Kommandanten war. Nach der siegreichen Völkerschlacht bei Leipzig war Jahn mit verschiedenen Aufträgen für die Preußische Regierung befasst, die ihm in Anerkennung seines Wirkens einen lebenslangen Ehrensold gewährte.
In seiner Ehe mit Helene Kollhof (1814) wurden drei Kinder geboren. 1815 gründeten die ehemaligen Lützower die Urburschenschaft auf der Grundlage von Jahns Ideen: freie Rechte für alle Bürger, Verfassung und Einheit des Vaterlandes.
In dieser Zeit setzte er seine turnfachlichen Arbeiten fort, die 1816 mit dem Erscheinen seines mit dem Turnlehrer Ernst Eiselen verfassten Buches „Die Deutsche Turnkunst“ einen Höhepunkt erreichten. Hierin hat er die Vielfalt jener Körperübungen beschrieben, die nach seinem Verständnis unter den Begriff „Turnkunst“ fallen: Gehen, Laufen, Springen, Schwingen am Schwingel, dem heutigen Pauschenpferd, Schweben (Balancieren), Übungen am Barren und Reck, Klettern, Ringen sowie Turnspiele, Schwimmen, Fechten, Reiten und Tanzen. Das Wirken Friedrich Ludwigs Jahns begann, Früchte zu tragen: Bis 1819 entstanden in Preußen und anderen deutschen Staaten über 150 Turnplätze; Jahn hielt Vorträge über das deutsche Volkstum, in denen er das politische System und die Kleinstaaterei angriff.
Ab 1818/19 wurde Jahn und sein Turnwesen auf Betreiben Metternichs in Preußen und anderen deutschen Staaten verboten, die Turnplätze wurden geschlossen, Jahn wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die er in Spandau, Küstrin, Berlin und Kolberg verbüßte.
Die Erinnerungsturnhalle mit Krypta wurde 1894eingeweiht.
Nach dem Tod seiner Ehefrau Helene heiratete er 1825 Emilie Hentsch, die ihm eine Tochter gebar. Im gleichen Jahr wurde er frei gesprochen. Die Aufrechterhaltung der Ehrenpension wurde mit der Bedingung verknüpft, sich zukünftig in keiner Universitäts- oder Gymnasialstadt niederzulassen. Seither wohnte Jahn mit kurzer Unterbrechung (Verbannung nach Kölleda) in Freyburg an der Unstrut.
1838/39 baute er dort sein Wohnhaus, das heute das Jahn-Museum beherbergt. 1840 erfolgte seine Rehabilitierung durch König Friedrich Wilhelm IV. und die Verleihung des „Eisernen Kreuzes“.
Mit Genugtuung, wenngleich selbst längst nicht mehr aktiv, erlebte Jahn 1842 die Aufhebung des Turnverbotes. Er war in dieser Zeit hinter dem gesellschaftlichen Fortschritt zurück geblieben. In der Revolution von 1848 verstand er die revolutionären Turner nicht mehr und wurde von Zeitgenossen wegen seiner Deutschtümelei und anderem als „Turnwüterich“ kritisiert. Dennoch delegierten ihn die Turner des Merseburger Wahlbezirks als ihren ehemaligen Mitkämpfer in die Frankfurter Nationalversammlung, die schließlich scheiterte. Der vollständige Bruch mit den Turnern erfolgte, weil sich die Turner durch Jahns reaktionäre Positionen in der Nationalversammlung verraten fühlten (offener Brief der Hanauer Turner).
Friedrich Ludwig Jahn nahm 1848 an der Gründung des Deutschen Turner-Bundes teil. Die „Schwanenrede“, in der er sich zur deutschen Einheit bekannte, war seine Reaktion auf das Zerwürfnis mit den republikanisch gesinnten Turnern. Am 15.10.1852 starb Friedrich Ludwig Jahn in Freyburg / Unstrut.
Bedeutung und WertungBedeutung und Wertung
Für die Etablierung des Turnens und den Aufbau des ersten öffentlichen Turnplatzes, wird Jahn bis heute gewürdigt.
Friedrich Ludwig Jahn erfährt seine heutige Bedeutung als Schöpfer der nationalen Turnbewegung, die zur Gründung unübersehbar vieler Turnvereine, des Deutschen Turner-Bundes und letztlich zur Herausbildung des Gerätturnens als Weltsportart führte. Der Vorwurf, dass seine Motivation allein auf der Grundlage seines deutschnationalen und militärischen Anliegens beruhte, ist in gewisser Weise zwar zutreffend, aber auch insofern zu relativieren, als das Jahnsche Gedankengut und sein Wirken im Zusammenhang mit den historischen Gegebenheiten beurteilt werden müssen. Sein politisch widersprüchliches Verhalten im Laufe seines Lebens bot Spielraum dafür, dass die späteren unterschiedlichen politischen Systeme in Deutschland sein Gedankengut in unterschiedlicher Weise bewerteten.
Die Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft versucht in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher Disziplinen Jahn, sein Wirken und Schaffen sowie die mit ihm verbundene Rezeption zu erforschen und zu diskutieren, um eine kritische aber differenzierte und ausgewogene Verortung und Bewertung zu erlangen.
Jahns Leben und Wirken verlief widersprüchlich. Unbestritten sind heute seine Verdienste für die Entwicklung des Turnwesens und sein Engagement im Rahmen der Befreiung von der Napoleonischen Herrschaft. Die Überspitzung seiner national orientierten Gedanken führte in seinen Reden, Briefen und Schriften zu Fremdenhass und übersteigertem Nationalismus. Eingeschlossen in sein nationalistisches Gedankengut waren auch abwertende Äußerungen gegenüber Juden, Franzosen und anderen Menschen, die aus seiner Sicht seinem Weltbild zuwider handelten.
Jahndenkmal in der Ehrenhalle. Erschaffen um 1903